Wednesday, December 19, 2012

Die Insel Utröst

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Auf Vaerö, nahe bei Röst, wohnte einst ein armer Fischer, der hieß Issak. Er hatte nichts als ein Boot und ein paar Ziegen, die seine Frau kümmerlich mit Fischabfällen fütterte und dem Gras, das sie auf den Bergen sammeln konnten; aber seine ganze Hütte hatte er voll hungriger Kinder. Trotzdem war er immer zufrieden mit dem, was Gott ihm bestimmt hatte. Das einzige was ihn plagte, war, dass er mit seinen Nachbarn nie recht in Frieden leben konnte.
Der war ein reicher Mann und bildete sich ein, er müsse alles besser haben als solch ein Bettelsack wie Isaak, und deshalb wollte er Isaak weghaben, weil er sich den Anlegeplatz vor seiner Hütte aneignen wollte. Eines Tages war Isaak ein paar Meilen aufs Meer hinausgefahren, um zu fischen; da kam auf einmal Nebel herauf, und in einem Augenblick brach ein so gewaltiger Sturm los, dass er all seine Fische über Bord werfen musste, um das Schiff leichter zu machen und sein Leben zu retten. Trotzdem war es sehr schwer, das Schiff flottzuhalten; aber er wand seinen Kurs geschickt zwischen und über die Sturzwellen, die jeden Augenblick bereit waren, ihn hinunterzuschlingen. Aber die Zeit verging, und der Sturm und der Nebel wurden immer ärger.
Da fing er an zu begreifen, dass er dem Meere zusteuerte oder dass der Wind sich gedreht hatte, und schließlich merkte er, dass es wirklich so war, denn er fuhr und fuhr und sah doch nirgends Land. Auf einmal hörte er einen hässlichen Schrei vom Steven her, und er glaubte schon, das sei der Draug, der ihm den Leichenpsalm singe. Aber er bat zu Gott für seine Frau und Kinder, denn er meinte, sein letztes Stündlein sei gekommen. Wie er so saß und betete, erblickte er undeutlich etwas Schwarzes, aber als er näher kam, waren es nur drei Seeraben, die auf einem Treibholz saßen – und witsch war er vorbei. So fuhr er lange Zeit, und er wurde durstig und so hungrig und müde, dass er sich gar nicht zu helfen wusste, meist saß er mit dem Steuerruder in der Hand und schlief.

Aber auf einmal fuhr das Boot auf den Strand und stand stille. Da machte Isaak wohl die Augen auf. Die Sonne brach durch den Nebel und schien über ein schönes Land. Die Hügel und Berge waren grün bis hinauf zum Gipfel, und Äcker und Wiesen lagen dazwischen an den Abhängen, und er glaubte einen Duft von Blumen und Gras zu verspüren, so süß, wie es ihm noch nie vorgekommen war. „Gott sei Dank, jetzt bin ich geborgen, das ist Utröst!“ ran ziehen sagte er sich selber.
Gleich vor ihm lag ein Gerstenacker mit Ähren so groß und voll, wie er niemals Ähnliches gesehen hatte, und durch den Gerstenacker ging ein schmaler Weg hinauf zu einer grünen torfbelegten Erdhütte, die über dem Acker lag; auf dem Dach der Hütte weidete eine weiße Ziege mit vergoldeten Hörnern, und ein Euter hatte sie, so groß wie die Kuh. Vor der Tür saß ein kleiner blaugekleideter Mann auf einem Holzstuhl und schmauchte sein Pfeifchen; er hatte einen Bart, so groß und lang, dass er ihm weit auf die Brust hinunterreichte. „Willkommen in Utröst, Isaak“, sagte der Mann. „Grüß Gott, Vater“, sagte Isaak. „Kennt Ihr mich denn?“ „Das kann schon sein“, sagte der Mann, „du willst wohl heute hier übernachten?“ „Das wäre schön, Vater“, gab Isaak zurück. „Es ist arg mit den Söhnen, sie können keine Christen riechen“, sagte der Mann darauf. „Bist du ihnen nicht begegnet?“ „Nein, ich bin nichts begegnet, als drei Seeraben, die saßen auf einem Treibholz und krächzten“, gab Isaak zur Antwort. „Ja, das waren meine Söhne“, sagte der Mann und klopfte seine Pfeife aus, „nun geh einstweilen hinein; ich denke, du wirst hungrig und durstig sein.“ „Ich bin so frei, Vater“, sagte Isaak. Aber als der Mann die Tür aufmachte, war es drinnen so schön, dass Isaak von einem Erstaunen ins andere kam. Der Tisch war mit den prächtigsten Gerichten gedeckt, Rahmschüsseln und Rotfisch und Wildbret und Leberknödel mit Sirup und Käse dazu, ganze Haufen von Kringeln, Branntwein und Bier und Met und alles Gute. Isaak aß und trank, so tapfer er konnte, und doch wurde sein Teller nie leer, und soviel er auch trank – das Glas war immer gleich voll. Der Mann, der aß nicht und sagte auch nicht viel; aber auf einmal hörten sie Schreien und Lärmen draußen, und da ging er hinaus.

Nach einer Weile kam er wieder herein mit seinen drei Söhnen; Isaak zitterte innerlich, als sie zur Tür hereinkamen, aber der Mann musste sie wohl zur Ruhe gebracht haben, denn sie waren sehr freundlich und liebenswürdig und sagten, er solle doch sein Tischrecht gebrauchen und sitzen bleiben und mit ihnen trinken, denn Isaak war aufgestanden und wollte vom Tisch weggehen; er sei satt, sagte er. Aber er gab nach, und sie tranken Zug um Zug, und zwischenhinein nahmen sie einen Schluck Bier oder Met; gute Freunde wurden sie und verstanden sich recht gut, und sie sagten, Isaak solle mit ihnen zum Fischen hinausfahren, damit er doch etwas zum Mitnehmen habe, wenn er wieder heim wolle. Die erste Ausfahrt, die sie machten, geschah in einem gewaltigen Sturm. Einer von den Söhnen saß am Steuer, der zweite vorn und der dritte in der Mitte, und Isaak musste mit dem großen Schöpfkübel hantieren, dass er von Schweiß nur so troff. Sie segelten, als wären sie toll. Nie refften sie die Segel, und wenn das Boot voller Wasser war, tanzten sie oben auf den Wellenkämmen und fuhren wieder hinunter, dass das Wasser am Heck hochspritzte wie ein Wasserfall. Nach einer Weile legte sich das Unwetter, und sie fingen an zu fischen. Da war es so voller Fische, dass das Senkblei nicht durch die Berge von Fischen unter ihnen dringen konnte. Die Söhne von Utröst zogen Stück um Stück in die Höhe; Isaak verstand sich auch gut auf die Kunst, aber er hatte sein eigenes Fischzeug mitgenommen, und jedes Mal, wenn ihm ein Fisch anbiss, kam er wieder los, und schließlich hatte er keine Gräte gefangen. Als das Boot voll war, fuhren sie wieder heim nach Utröst, und die Söhne richteten die Fische zu und legten sie auf den Ständer. Währenddessen klagte Isaak dem Vater, dass er so wenig Glück gehabt hatte. Der Mann versprach, es solle ihm das nächste Mal besser gehen, und gab ihm ein paar Angeln, und als sie das nächste Mal zum Fischen ausfuhren, zog Isaak ebenso viel Fische auf wie die anderen, und als sie heimkamen, fielen drei Ständer voll Fische auf sein Teil.

Schließlich bekam Isaak Heimweh, und als er fortfahren wollte, verehrte ihm der Mann ein neues Fischerboot voll Mehl und Tauzeug und andere nützliche Dinge. Isaak dankte vielmals, und der Mann lud ihn ein, er solle doch wieder kommen, wenn die Schifffahrt beginne, er wolle mit einer Ladung im zweiten Stevne nach Bergen, und da könnte Isaak mitfahren und selber dort seine Fische verkaufen. Isaak war gern bereit und fragte, was er für einen Kurs halten soll, wenn er wieder nach Utröst wolle. „Fahr nur dem Seeraben nach, wenn er aufs offene Meer zufliegt, dann hast du den rechten Kurs“, sagte der Mann, „Glück auf die Reise!“ Aber als Isaak unterwegs war und sich umschaute, sah er kein Utröst mehr; er sah nichts mehr als das Meer weit und breit. Als es Zeit war, fuhr Isaak zur Ausfahrt der Jacht. Aber eine solche Jacht hatte er noch nicht gesehen; sie war zwei Ruf lang, so dass der Ruderknecht es nicht hören konnte, wenn der Steuermann, der im vordersten Ausguck hielt, ihm etwas zurufen wollte. Deshalb hatte man noch einen Mann mitten ins Schiff gesetzt, dicht neben den Mast, der musste den Ruf des Steuermannes dem Ruderknecht zurufen, und auch der musste noch schreien, so sehr er konnte.

Isaaks Teil legten sie in den Vorderteil der Jacht; er nahm selbst die Fische von den Ständern, aber er konnte nicht begreifen, wie das zuging, immer kamen neue Fische auf den Ständer, soviel er auch wegnehmen mochte, und als er wegfuhr, waren sie ebenso voll wie zuvor. Als er nach Bergen kam, verkaufte er seine Fische und bekam so viel Geld dafür, dass er sich eine neue Jacht mit ganzer Ausrüstung und Ladung und allem, was dazugehört, kaufen konnte, denn der Mann riet ihm dazu. Spät am Abend, als er heimfahren wollte, kam der Mann und sagte, er solle die nicht vergessen, die nach seinem Nachbarn lebten, denn er selbst sei gestorben, und dann sagte er dem Isaak Glück und Segen für die Jacht voraus. „Alles ist gut, und alles hält, was in die Luft ragt“, sagte er, und damit meinte er, es sei einer an Bord, den niemand sehe, der aber den Mast mit seinem Rücken stützte, wenn es nötig sei. Isaak hatte seit der Zeit immer Glück. Er merkte wohl, wo das herkam, und vergaß niemals dem, der die Winterwacht hielt, etwas Gutes herzurichten, wenn er die Jacht im Herbst aufs Trockene zog. Und an jedem Juliabend glänze und schimmerte es von der Jacht her, und man hörte Fiedeln und Musik und Lachen und Lärm, und es war Tanz in der verlassenen Jacht.

Märchen aus Norwegen

Stevne = eine Reihe von Schiffen, die zusammen von Nordland nach Bergen fahren, um Fische zu verkaufen.
Jacht = nämlich zu dem Zeitpunkt, wo im Frühjahr, die Schifffahrt wieder beginnt.

Tuesday, December 04, 2012

Die Wichtelmänner


snow-walk


Ein Märchen der Gebrüder Grimm - KHM 039

ERSTES MÄRCHEN

Es war ein Schuster ohne seine Schuld so arm geworden, dass ihm endlich nichts mehr übrig blieb als Leder zu einem einzigen Paar Schuhe. Nun schnitt er am Abend die Schuhe zu, die wollte er den nächsten Morgen in Arbeit nehmen; und weil er ein gutes Gewissen hatte, so legte er sich ruhig zu Bett, befahl sich dem lieben Gott und schlief ein. Morgens, nachdem er sein Gebet verrichtet hatte und sich zur Arbeit niedersetzen wollte, so standen die beiden Schuhe ganz fertig auf seinem Tisch.

Er verwunderte sich und wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er nahm die Schuhe in die Hand, um sie näher zu betrachten: sie waren so sauber gearbeitet, dass kein Stich daran falsch war, gerade als wenn es ein Meisterstück sein sollte. Bald darauf trat auch schon ein Käufer ein, und weil ihm die Schuhe so gut gefielen, so bezahlte er mehr als gewöhnlich dafür, und der Schuster konnte von dem Geld Leder zu zwei Paar Schuhen erhandeln. Er schnitt sie abends zu und wollte den nächsten Morgen mit frischem Mut an die Arbeit gehen, aber er brauchte es nicht, denn als er aufstand, waren sie schon fertig, und es blieben auch nicht die Käufer aus, die ihm so viel Geld gaben, dass er Leder zu vier Paar Schuhen einkaufen konnte. Er fand frühmorgens auch die vier Paar fertig; und so ging’s immerfort, was er abends zuschnitt, das war am Morgen verarbeitet, also dass er bald wieder sein ehrliches Auskommen hatte und endlich ein wohlhabender Mann ward. Nun geschah es eines Abends nicht lange vor Weihnachten, als der Mann wieder zugeschnitten hatte, dass er vor Schlafengehen zu seiner Frau sprach 'wie wär’s, wenn wir diese Nacht aufblieben, um zu sehen, wer uns solche hilfreiche Hand leistet?'

Die Frau war’s zufrieden und steckte ein Licht an; darauf verbargen sie sich in den Stubenecken, hinter den Kleidern, die da aufgehängt waren, und gaben Acht. Als es Mitternacht war, da kamen zwei kleine niedliche nackte Männlein, setzten sich vor des Schusters Tisch, nahmen alle zugeschnittene Arbeit zu sich und fingen an, mit ihren Fingerlein so behend und schnell zu stechen, zu nähen, zu klopfen, dass der Schuster vor Verwunderung die Augen nicht abwenden konnte. Sie ließen nicht nach, bis alles zu Ende gebracht war und fertig auf dem Tische stand, dann sprangen sie schnell fort.

Am andern Morgen sprach die Frau 'die kleinen Männer haben uns reich gemacht, wir müssten uns doch dankbar dafür bezeigen. Sie laufen so herum, haben nichts am Leib und müssen frieren. Weißt du was? Ich will Hemdlein, Rock, Wams und Höslein für sie nähen, auch jedem ein Paar Strümpfe stricken; mach du jedem ein Paar Schühlein dazu.' Der Mann sprach 'das bin ich wohl zufrieden,' und abends, wie sie alles fertig hatten, legten sie die Geschenke statt der zugeschnittenen Arbeit zusammen auf den Tisch und versteckten sich dann, um mit anzusehen, wie sich die Männlein dazu anstellen würden. Um Mitternacht kamen sie heran gesprungen und wollten sich gleich an die Arbeit machen, als sie aber kein zugeschnittenes Leder, sondern die niedlichen Kleidungsstücke fanden, verwunderten sie sich erst, dann aber bezeigten sie eine gewaltige Freude. Mit der größten Geschwindigkeit zogen sie sich an, strichen die schönen Kleider am Leib und sangen:

'Sind wir nicht Knaben glatt und fein?
Was sollen wir länger Schuster sein!'

Dann hüpften und tanzten sie, und sprangen über Stühle und Bänke. Endlich tanzten sie zur Tür hinaus. Von nun an kamen sie nicht wieder, dem Schuster aber ging es wohl, solang er lebte, und es glückte ihm alles, was er unternahm.